Wie ich beinahe der erste Student der Ruhr-Universität geworden wäre

Am Bahnhof Zoo in Berlin stieg ich in den Interzonen-Nachtzug Richtung Westen. Ich stand vor dem 5. Semester in Philologie und hatte vor,  nach Bonn zu wechseln. Auf dem Wege aber wollte ich mir die neue Ruhr-Universität anschauen, die erste Universitätsneugründung der Bundes-republik. Am Mittwoch, dem 20. Oktober 1965 in grauer Morgenstunde kam ich Bochum an.

Um den typischen DDR-Interzonenzug-Geruch loszuwerden, ging ich erst mal in’s Schwimmbad am Hauptbahnhof. Erfrischt und erwartungsvoll fuhr ich mit dem Bus nach Querenburg. Von den geplanten 12 langgestreckten Hochhäusern der neuen Universität standen erst anderthalb, IA und IB (I für Ingenieurwissenschaften), im Entwurf vorne rechts  sozusagen. IB war in den Obergeschossen noch nicht vollständig ausgebaut, aber in den unteren Etagen bereits Sitz der Uni-Verwaltung.

Ich folgte den Wegweisern, landete im 1. Obergeschoss, trat ein und war geblendet: Scheinwerfer, Fernsehkameras,  Fotografen und  Journalisten. Ich war völlig verblüfft. Ein Herr im schwarzen Anzug ging auf mich zu, schüttelte mir die Hand, begrüßte mich herzlich und sagte: “Sie wollen sich sicherlich immatrikulieren!” Damit hatte ich nicht gerechnet. Ich war völlig konsterniert und stellte fest: Man wartete auf den ersten Studenten, man fieberte ihm förmlich  entgegen.

Vorher hatte ich an den überfüllten Universitäten in Tübingen und an der Freien Universität Berlin studiert. Studenten waren dort Massenware.  Daher war ich völlig überwältigt von so viel Willkommensfreude. Ich musste Herrn Gesthuisen, den Verwaltungsleiter, der das Empfangskomitee leitete, enttäuschen: Ich wollte mich nicht immatrikulieren. Ich wollte mich nur orientieren. Ich hatte noch gar nicht vor, in Bochum zu studieren. Ich hatte auch gar nicht die erforderlichen Unterlagen dabei.

Franz-Josef König war der echte erste Student. Er immatrikulierte sich wenig später an diesem Morgen für das Studium der Rechtswissenschaften und schrieb sich damit in die Unversitäts-geschichte ein.

Allerdings – der überschwängliche Empfang blieb nicht ohne Folgen. Trotz der unwirtlichen Baustelle schien Bochum heiter und unproblematisch. Unterkunft? Kein Problem – Studentenheime warteten auf Mieter. Mir wurde der Weg gewiesen zu den Anglisten, bei denen ich studieren wollte. Ulrich Suerbaum, der erste ordentliche Professor der RUB, war jung, humorig und von westfälischer Unkompliziertheit. Er freute sich über studentischen Besuch. Hauptseminar? Natürlich. Nebenerwerb als Studentische Hilfskraft? Kein Problem.

Ruhr-Universität – das war damals im Oktober 1965 draußen viel Matsch und drinnen unglaublich viel Beton, nackte Treppehäuser, Lifts, lange Gänge, viele Türen, Peilschienen, Neonleuchten. Alles war neu, frisch, modern und brutal steril. Stahlskelett-Beton-Fertigbaumontage.

Aber alle, die dort waren, Professoren, Assistenten, Verwaltungsmitarbeiter, Handwerker, Studenten, alle hatten etwas vor. Es herrschte Pioniergeist, Aufbruchstimmung: die neue Universität mit Leben erfüllen!

Um die Geschichte abzukürzen: Ich bin nicht weiter nach Bonn gefahren. Ich mietete ein Zimmer im anthroposophischen Roncalli-Studentenheim in der Laerheidestr., fuhr zurück nach Berlin, holte meine Sachen und immatrikulierte mich.

In Bochum erlebte ich die bewegten spät-60er Jahre und Anfang 70er Jahre, die große Liebe und den Beginn der Bundesrepublik 2.0. Und so haben wir auch gelebt, im Aufbruch, in Bewegung, experimentierend, demonstrierend, diskutierend. Und – wir haben viel studiert oder genauer: viel gelernt. Nicht in erster Linie in der Universität sondern vom Dasein und Mieteinandersein.

Und ich lernte ganz andere Menschen kennen, vom Pütt, vom Opel, vom Bochumer Verein, Taubenzüchter, Handelsvertreter,  Steinstaubinvaliden und viele Mitstudenten, häufig im Grunewald bei Albert Drepper, Markstraße 139.

Bochum und das Ruhr-Gebiet waren handfest und haben die Weichen für mein späteres Leben gestellt. Nach meinem Examen habe ich mich von der Philologie verabschiedet. Ich  bin nach Berlin zurückgekehrt, wurde Kreuzberger und habe mit viel Neugierde und Vergnügen in der Planung und Stadtentwicklung dienend als Novize neu angefangen.

Erst später  habe ich durch meinen Beruf erfahren, dass die Gewinner des bundesweiten Ideenwettbewerbs für die Ruhr-Universität, die Düsseldorfer Architekten Hentrich und Petschnigg, ihren Universitäts-Entwurf als “Hafen im Meer des Wissens” bezeichneten. So verstand ich schliesslich die Kernidee des Entwurfs  für die Ruhr-Universität: langgestreckte  Achtgeschosser ankern in Dreiergruppen in Kreuzformation um eine Audimax-Muschel.

Hentrich hatte internationale Erfahrung und war erfahren in großen Bauaufgaben. Er baute für die Organisation Todt und gehörte zum Stab des  des Generalbauinspektors Albert Speer. Später baute er in der Bundesrepublik im internationalen Stil und prägte mit Bank- und Verwaltungsbauten das Erscheinungsbild der Innenstadt von Düsseldorf (z.B. Dreischeibenhaus)

Heute ist dieser “Hafen im Meer des Wissens”, die Ruhr-Universität in Bochum mit 43.000 Studenten die fünftgrößte Universität Deutschlands, ein Flächen-Denkmal der technokratischen Moderne der Bundesrepublik und akademisch ausgezeichnet für Zukunftskonzepte in der Endrunde der Exzellenz-Initiative.

Der Ruhr-Universität eine gute Zukunft und weitere erlebnis-  und erkenntnisreiche 50 Jahre!

Studentenausweis bei der Immatrikulation

Studentenausweis WS 1972/73