Wie ich die Notstandsgesetzgebung bekämpfte

Mitte März 1968 begann mein erstes Semester an der Ruhr-Universität – damals noch studiengeldpflichtig, was bald darauf abgeschafft wurde. Politisch wurden die ersten Wochen auf dem Querenburger Campus bestimmt durch das Attentat auf Rudi Dutschke und den Streit um die Notstandsgesetze. Schon wenige Tage nach Vorlesungsbeginn wurde ich mit der „Ruhraktion gegen die Notstandsgesetze“ konfrontiert. Die verschiedenen linken Gruppen arbeiteten dort zusammen, wenn auch nicht sehr koordiniert – aber immerhin nicht nur in der Uni, sondern auch in verschiedenen Stadtvierteln des Ruhrgebiets. Die Tische in der damaligen Mensa quollen mittags regelrecht über von Verlautbarungen der verschiedensten Gruppen.

Die Verabschiedung der Notstandsgesetze hatte für mich persönlich eine besondere Bedeutung erlangt: Während der verschiedenen Lesungen dieses damals hoch umstrittenen, später recht unrelevanten Kindes der Großen Koalition tummelte ich mich ortsmäßig an gegensätzlichen Fronten: Die Erste Lesung erlebte ich am 29. Juni 1967 als Beamter des Bundesgrenzschutzes im Hof des Bonner Innenministeriums, die Zeit vor der Dritten Lesung als demonstrierender Student in verschiedenen Stadtvierteln des Ruhrgebiets und vor dem Bochumer Gewerkschaftshaus in der Kortumstraße.

Zweck der Notstandsgesetze, die dann schließlich am 30. Mai 1968 verabschiedet wurden, waren Regelungen für den Verteidigungsfall, den Spannungsfall, den inneren Notstand und den Katastrophenfall. In diesen Fällen konnten die Grundrechte – insbesonder das Briefgeheimnis und das Post- und Fermeldegeheimnis – eingeschränkt werden. Die besondere Aufmerksamkeit des progressiven Teils des Bürgertums, vieler Studenten und vor allem des (damals großen) linken Flügels der Gewerkschaftsbewegung galt der dem neuen Artikel 87 a des Grundgesetzes. Danach durfte die Bundeswehr von der Bundesregierung unter bestimmten Bedingungen auch eingesetzt werden „zur Abwehr einer drohenden Gefahr für den Bestand oder die freiheitliche demokratische Grundordnung des Bundes oder eines Landes“. Auf Verlangen des Bundestages oder Bundesrates sei der Einsatz einzustellen. Art. 9 Abs. 3 (Koalitionsfreiheit) bestimmte, dass sich eine solche Maßnahme „nicht gegen Arbeitskämpfe richten“ dürfe. Dennoch fürchtete die deutsche Linke eine zu große Machtzuweisung an – als konservativ angenommene – künftige Regierungen.

Auch um die Kritiker zu besänftigen, wurde in Art. 20 GG ein vierter Absatz eingefügt, der als Ultima ratio, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist, jedem Deutschen das Recht gibt,gegen jeden, der es unternimmt, diese (verfassungsmäßige) Ordnung zu beseitigen, Widerstand zu leisten (siehe Art. 20 GG). Außerdem wurde die Verfassungsbeschwerde, bislang nur einfachrechtlich normiert (§§ 90 ff. BVerfGG), nun auch verfassungsrechtlich garantiert (in Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG).

Schon vor dem Attentat auf Dutschke am 11. April 1968 hatte es Demonstrationen gegen die Notstandsgesetze gegeben. Die Situation hatte sich aber verschärft durch die zumindest in Berlin gewalttätigen Demonstrationen nach dem Dutschke-Attentat (die in Essen vor dem Bild-Zeitungs-Gebäude lief aus heutiger Sicht recht friedlich ab), die auf Seiten des konservativen Blocks Rufe nach verschärften Maßnahmen nach sich zogen. Im Gegenzug entwickelten viele Studenten bis dahin beispiellose Aktivitäten, auf dem Campus und in den Städten.

Während dann am 30. Mai die damals mehrheitlich bürgerrechtlich ausgerichtete FDP schließlich geschlossen gegen das Gesetzesbündel stimmte, gab es auf Seiten der SPD zwei Flügel. Schließlich stimmten 53 ihrer Bundestagsabgeordneten wie die FDP. Dabei handelte es sich in einer großen Anzahl um Mitglieder und Sympathisanten der IG Metall. Diese hatten sich im Frühjahr bis Ende Mai zu zwei Seiten hin zu orientieren: Zum einen gab es Druck von Wehner und Co., die im Sinne des Erhalts der Großen Koalition für die Gesetze trommelten, zum anderen wurden sie von Betriebsräten und Vertrauensleuten gedrängt, konsequent dagegen zu stimmen. Mein Vater, Vertrauensmann der IG Metall bei Hoesch, wusste zu berichten, dass den unentschlossenen Abgeordneten angekündigt wurde, bei zustimmendem Abstimmungsverhalten nicht mehr aufgestellt zu werden.

Ich weiß nicht mehr genau, an welchem Tag wir dann zu verschiedenen Stahlwerken in Bochum marschierten, dort eine Vielzahl von Kollegen zum Mitgehen brachten und schließlich vor dem DGB-Haus in der Kortumstraße demontrierten- eine bis dahin und nach meiner Erinnerung auch später beispiellose Aktion. Auf einem Lastwagen stand, daran erinnere ich mich genau, von Seiten der Studenten u.a. Reinhard Zimmermann (SHB), der über ein Mikrofon das Wort ergriff. [Vielleicht wird er – besser mit den internen Einzelheiten vertraut – auch noch persönlich über die damaligen Kontakte und Entscheidungsfindungen berichten.] Während seiner Rede vor der durchaus aufgebrachten Menge glitt Reinhard aus und fiel zu Boden. Geistesgegenwärtig ergriff Dieter Giesen (damals SDS) das Mikrophon und brachte Reinhards angefangenen Satz zu Ende! Auch das war beispiellos.

Aus Gründen, die mir entfallen sind, wollten wir mit einer kleineren Gruppe in das Gewerkschaftshaus gehen, das aber weitgehend geschlossen war. Ein Pförtner allerdings – wohl ein Sympathisant – schloss uns die Hintertür auf und führte uns durch das Gebäude. Dabei passierten wir auch einen größeren Raum, in dem offensichtlich Teilnehmer einer Fortbildungsmaßnahme gerade eine Klausur schrieben und überrascht waren, ungebetenen Besuch zu bekommen.

Heute meine ich, dass wir in der folgenden Zeit an der – damaligen punktuellen –Einheit hätten weiterarbeiten müssen. Stattdessen begaben sich viele Studenten, leider auch ich, in einer unrevolutionären Zeit auf den Weg zur (Möchtegern-) Revolution.

-Christoph Ebner–